Gemeinsam für einen sicheren Heimweg

Julien Caselmann und Svenja Schilling von Flock.

© Jennifer Ganster

Den Schlüssel in der Tasche fest in der Hand - viele Menschen kennen das ungute Gefühl leider sehr gut, wenn sie nachts allein nach Hause gehen. Die Gründer*innen von Flock haben eine App entwickelt, mit der sie vor allem Frauen auf dem nächtlichen Heimweg vernetzen wollen, um sie vor sexuellen Übergriffen zu schützen. So können sich Personen mit einem gemeinsamen Heimweg zusammenschließen und den Schutz der Gemeinschaft nutzen. Mit ihrer Idee werden die Gründer*innen von unserem Inkubator FACE betreut. Im Interview erzählt das Gründungsteam von ihren Gründungserfahrungen und den Stärken eines guten Netzwerks. 

Beschreibt eure Gründungsidee:

Der Name „Flock“ kommt aus dem Englischen und bedeutet so viel wie „Vogelschwarm“. Vögel tun sich in größeren Gruppen zusammen, um sich so gemeinsam sicherer zu fühlen. Und genau das ist die Idee von Flock: 78 % der Frauen und 81 % der Personen mit dem Geschlechtsmarkmal divers in Deutschland haben bereits sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum erfahren.[1] 98% der Personen, die Opfer von Vergewaltigungen geworden sind, waren dabei allein unterwegs.[2] Mit der Flock App vernetzen wir Personen mit einem ähnlichen Heimweg, so dass sie gemeinsam unbeschwert ans Ziel kommen und sexuellen Übergriffen vorgebeugt werden kann. Gemeinsam setzen wir uns dafür ein, die Nacht zu einem sicheren und inklusiven Raum zu machen.

Wie kamt ihr auf den Gedanken, ein Start-up zu gründen?

Wir, die Gründer*innen von Flock, sind selbst von dem Problem betroffen und haben Flock somit aus einem eigenen Need heraus gegründet. Wir haben bereits selbst die Erfahrung gemacht, nachts ängstlich mit dem Schlüssel in der Hand nach Hause zu laufen, sich aus Angst einzuschränken und Catcalling oder anderer Art der sexuellen Belästigung ausgesetzt zu sein. Aylin wurde beispielsweise auf ihrem Heimweg in Berlin einmal von einem Mann verfolgt. An der Bahnhaltestelle schilderte sie dann in ihrer Not einer Gruppe von Frauen ihre Situation und fragte, ob sie sich zu ihnen stellen kann. Gemeinsam, als Teil der Gruppe, wurde der Mann abgeschreckt und entschied sich, von ihr abzulassen. Erfahrungen wie diese führten letztendlich zur Entstehung der Idee von Flock.

Wie ließ sich die Gründung mit dem Studium/dem Beruf vereinbaren?

Grundsätzlich stellt das nach wie vor eine große Herausforderung für uns da. Wir arbeiten für Flock nun seit rund zwei Jahren ehrenamtlich. Aylin studiert im Bachelor BWL, Julien im Master Informatik und Svenja Ethik, Wirtschaft und Politik im Master. Zusätzlich haben wir alle einen oder zwei zusätzliche Jobs, um uns das Studium zu finanzieren. Gerade Förderprogramme wie EXIST, die erst nach einem abgeschlossenen Studium in Frage kommen, machen es uns leider nicht möglich, unsere Jobs aufzugeben und uns hauptsächlich dem Start-up zu widmen. Zum Glück können wir uns aber gegenseitig entlasten und immer dann, wenn bei einer Person gerade mehr los ist, für sie einspringen und Aufgaben übernehmen. Mit der Zeit lernt man außerdem, welcher Workload und welches Arbeitstempo realistisch sind. Grundsätzlich geht es einfach darum, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und kontinuierlich am Ball zu bleiben.

Die WORLDFACTORY bedeutet für uns…

...große Unterstützung sowie ein sehr wertvolles Netzwerk. Wir sind nun seit rund 1,5 Jahren bei der Gründungsberatung der WORLDFACTORY. Aus den Gesprächen nehmen wir immer wieder neue Motivation, Denkanstöße und Tipps mit. Alleine, sich regelmäßig zu reflektieren und einer dritten Person vom Fortschritt und geplanten Meilensteinen zu berichten oder mit offenen Fragen und Herausforderungen nicht allein zu sein, hilft uns ungemein, unser Gründungsvorhaben voranzubringen. Neben der persönlichen Unterstützung war uns gerade das große Netzwerk der WORLDFACTORY eine große Hilfe und hat uns beispielsweise für die Live-Tests der App einige Türen geöffnet.

Was sind die größten Herausforderungen, auf die man stoßen kann und wie geht man damit um?

Neben der bereits angesprochenen Vereinbarkeit von Studium, Beruf und Gründung war bei uns das Finden von Teammitgliedern eine große Herausforderung. Bevor wir zu Flock fusioniert sind, haben Aylin mit Wover und Svenja mit Heimline alleine an der Gründungsidee gearbeitet. Aylin hat bereits einige Wechsel im Team durchgemacht und auch bei Svenja ist die ursprüngliche Mitgründerin aus zeitlichen Gründen ausgestiegen. Über Instagram haben wir uns dann gefunden, gemerkt, dass wir die gleichen Werte und Ziele verfolgen und schließlich beschlossen, gemeinsam an der Idee weiterzuarbeiten. Anfänglich bestand das Team von Flock aus sechs Teammitgliedern. Inzwischen sind wir mit Julien, unserem Mitgründer und  Entwickler, ein dreiköpfiges Team, das in Berlin und Bochum verstreut sitzt und mit unterschiedlichen Kompetenzen gut aufgestellt ist. Wichtig ist es, nicht aufzugeben und immer wieder nach neuen Mitstreiter*innen und Allies zu suchen. Eine wichtige Erkenntnis für uns war aber auch, dass ein kleineres, aber dafür motiviertes Team teilweise besser und effizienter zusammenarbeitet als ein mehrköpfiges Team, bei dem allerdings die Ansichten/das Commitment nicht übereinstimmen.

Was ist das Besondere an eurem Start-up?
Das Besondere an Flock ist, dass die Idee über die Entwicklung hinausgeht. Wir möchten nicht nur Personen vernetzen, um gemeinsam den Heimweg zu bestreiten, sondern eine Community kreieren, die von Solidarität und gegenseitiger Unterstützung lebt. Nachts sorgenfrei nach Hause zu kommen, sollte kein Privileg von Wenigen sein. Wir möchten auf das Thema durch politische Arbeit aufmerksam machen und uns dafür einsetzen, dass sich grundlegend etwas in unserer Gesellschaft ändert. Mit Flock stehen wir für Freiheit und Gleichberechtigung im öffentlichen Raum ein. Mit unserer App geben wir Betroffenen eine Lösung an die Hand, die dabei unterstützt, sich gegenseitig zu helfen und so das Problem augenblicklich zu überwinden. Darüber hinaus solidarisieren wir uns mit anderen queeren und feministischen Bewegungen wie CatCallsofGermany, und gemeinsam setzen wir uns dafür ein, sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum als strukturelles Problem in unserer Gesellschaft zu bekämpfen.

Wo steht ihr aktuell und was kommt als nächstes?

Neben Netzwerk- und Communityaufbau durch Websiteerstellung, Social-Media-Marketing, Präsenz bei Netzwerkevents sowie in lokalen Medien wie Zeitung und Radio haben wir bereits an verschiedenen Wettbewerben teilgenommen, Marktanalyse sowie Produktspezifizierung betrieben und einen Businessplan erstellt. Kürzlich haben wir die dritte Version unseres Prototypen live bei zwei Veranstaltungen in der Rotunde Bochum getestet. Der nächste Schritt wird das Testen mit einer größeren User*innengruppe sein. Hierzu möchten wir einen Test in Berlin durchführen, um weitere Erfahrungen zu sammeln, mit der Zielgruppe in den Austausch zu treten und den besten Eintrittsmarkt wählen zu können. Nach dem Proof of Concept soll es dann in die Entwicklung des MVPs gehen. Hierbei setzen wir auf Kooperationspartner*innen aus der Veranstaltungsbranche sowie lokale Verkehrsbetriebe.

Euer Tipp an alle Gründungsinteressierten:

Wir selbst haben die Erfahrung gemacht, sehr lange zu zögern und alles durchdacht haben zu wollen, bis wir mit den Live-Tests gestartet sind. Wir haben unheimlich viele Umfragen und Interviews durchgeführt und den Prototypen virtuell testen lassen. Die größten Erkenntnisse hatten wir allerdings dadurch, das Produkt wirklich live im realistischen Umfeld zu testen und auf Partys mit der Zielgruppe zu sprechen. Gerade weibliche Gründerinnen tendieren dazu, zu viel zu überdenken und in der konzeptionellen Arbeit zu versinken. Planung und Vorarbeit ist wichtig, aber unser Tipp ist plump gesagt: „Trau dich, geh raus mit deiner Idee und mach einfach mal.“ So wirst du die meisten Erkenntnisse erzielen.


[1] Vgl. Statista (2021): Erfahrung mit sexuellen Übergriffen in verschiedenen Bereichen nach Geschlecht

[2] Vgl. Bundeskriminalamt (2019): Forschungsbericht gemeinschaftlich begangene Vergewaltigungen